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Experimentelle Planung – neue Möglichkeitsräume – werk, edition

Spielräume im Recht und Experimente im Raum

Steht das Experiment, der Test, der Feldversuch im Gegensatz zur Stabilität der Rechtsordnung? Nein, denn es gab schon immer Spielräume – doch sie werden zunehmend enger. Der Klimwandel und gesellschaftliche Entwicklungen könnten dazu führen, dass die Notwendigkeit wächst, auch im Planungs- und Baurecht flexibler agieren zu können. Im Gespräch mit Ludovica Molo und Caspar Schärer spüren Patrick Bonzanigo und Oliver Streiff den Möglichkeitsräumen im Recht und in der Planung nach.

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Caspar Schärer (CS)  Planung steht für Langfristigkeit und Rechtssicherheit, Experiment für etwas Schnelles, das auch scheitern darf. Wie finden diese zwei Konzepte zueinander?

Oliver Streiff (OS) In meinen Augen finden sie nicht zueinander. Sie führen ein paralleles Leben. Die Herausforderung ist es, diese beiden «Leben» aufeinander abzustimmen, Brücken zwischen ihnen zu schlagen. Ich bin nicht sicher, ob Experimente notwendigerweise kurzfristig angelegt sein müssen. Wenn wir an Feldversuche denken, können solche Versuche durchaus sehr langfristig sein. Es gibt agrarwirtschaftliche Feldversuche, die über Jahrzehnte gehen.

Patrick Bonzanigo (PB) Wir sprachen an der BSA-Tagung im September 2022 über die Schwierigkeit, Planungsexperimente bei Bedarf in langfristige, verbindliche Strukturen zu überführen. Wichtig scheint mir, dass auch unausgeführte Ideen und Misserfolge während und nach dem Experiment als Fundus erhalten bleiben. Im Beteiligungsprozess für das Areal Neugasse in Zürich wurden zum Beispiel nicht weiterverfolgte Projektideen aus den Workshops in einer Ideenbibliothek aufbewahrt. Ähnliche Ideengefässe finden sich etwa in den Regionalen Organisationskonzepten im Kanton Zürich.

Schlieren: Die «Pischte 52» eignete sich hervorragend für Sommerfeste mitten im Stadtzentrum. Bild: Zeljko Gataric

Ludovica Molo (LM)  Ist es überhaupt möglich, etwas wie die Planung zu regulieren, das eigentlich permanent am Laufen ist – damit eine gewisse Qualität gewährleistet ist?

OS Ich glaube, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir die Sicherungsmechanismen ein Stück weit zurückstellen müssen. Ein Experiment kann scheitern. Gerade bei Qualitätsfragen, und die stel- len sich immer dringender, müssen wir das vorherrschende Sicherheitsdenken verlassen. Unsere heutigen Möglichkeiten zur Qualitätssicherung, etwa Gestaltungsbeiräte, funktionieren ganz leidlich, letztlich aber doch nur punktuell. Bei einem Experiment müssen wir auch bei den Qualitätsfragen risikobereiter sein.

LM  Beim Thema der Qualität könnte man sich auch vorstellen – und das ist hier vielleicht eine Provokation –, die Arbeit der Architektinnen und Architekten deutlich weniger zu reglementieren, dass sie also mehr gestalterische Freiheit erhalten. Auf der anderen Seite müsste man darauf achten, mit welcher Haltung man an solchen Experimente herangeht.

PB Ich bin mir nicht sicher, ob man dadurch tatsächlich die gewünschte Qualität sicherstellt. In anderen Ländern gab es Versuche, Planungs- und Bauregeln stark zu reduzieren. Zum Teil gewannen Kräfte des Marktes Oberhand, die nicht unbedingt bauliche Qualität als erste Priorität haben. Ich bin jedoch nicht so skeptisch was die Planungs- und Bauregeln betrifft, zumindest wenn sie nicht unnötig kompliziert werden. Interessant sind hier zudem Regeln, die Minimalstandards setzen, aber auch Spielräume für qualitätsvolle Planung und fähige Planerinnen und Planer eröffnen.

OS Machen wir doch einmal ein Gedankenexperiment: Nehmen wir eine Gemeinde, deren Dorfzentrum im Inventar schützenswerter Ortsbilder der Schweiz ISOS eingetragen ist, setzen in einem bestimm- ten Gebiet die meisten der geltenden Regeln ausser Kraft und suchen neue Wege, auf denen wir zu tragbaren Lösungen kommen. So etwas darf man nicht flächendeckend machen, aber ein Experiment ist ja nie flächendeckend. Seit rund fünfzehn Jahren, seit dem Bundesgerichtsentscheid Rüti, muss man bei Nutzungsplanungen in ISOS-Gemeinden die im ISOS festgeschriebenen Schutzanliegen in eine umfassende Interessenabwägung einbringen. Letztlich, so meine Behauptung, ist das ein inhaltsleeres Gerüst. Wenn ich gut argumentiere und die Interessenabwägung richtig dokumentiere, komme ich mit Vielem durch. Gerade deshalb würde mich interessieren, wie ein solches Experiment vor sich geht: Wer agiert überhaupt? Vielleicht entstehen ganz unerwartete Allianzen.

CS  Man ändert die Spielregeln, sollte dann aber umso mehr darauf achten, wer mitspielen darf. Es sollte zum Beispiel keine «Haifische im Becken» haben…

PB Aber wie lässt sich das Experiment dann wieder in den real bestehenden Kontext überführen, in welchem im Stundentakt gebaut und mit Raum nicht nur sorgfältig umgegangen wird? Die verschiedenen Kräfte des Marktes und auch andere relevanten Akteure, sind nun mal da, mit ihren unterschiedlichenn Prioritäten. Letztlich geht es darum, diese Kräfte auf eine Art und Weise einzubinden, die Qualität zum Durchbruch verhelfen kann.

LM  Ja, das stimmt. Und das war auch ein Thema, das an der Tagung ausgeklammert wurde. Wir sprachen praktisch nur über den öffentlichen Raum. Wir wissen, dass der öffentliche Raum formbar, transformierbar ist. Für das Immobiliengeschäft ist der öffentliche Raum vielleicht 
nicht prioritär.

PB Ich sehe den hier von Oliver skizzierten Feldversuch etwas skeptisch. Ich bin eher für das Aufspüren von Spielräumen innerhalb der bestehenden Rechtsordnung. Davon gibt es einige. Bei Feldversuchen muss man die Variablen simplifizieren und auch die Akteure auswählen, die zugelassen sind oder auch nicht. Und damit ist ein solches Experiment nicht wirklich repräsentativ. Mich interessiert deshalb mehr, wie Experimente innerhalb der geltenden Ordnung durchgeführt werden könnten.

OS Generell möchte ich anregen, das planerische Experiment in zwei Richtungen zu denken: Zuerst sollte man Spielräume suchen und nutzen; später kommt die Frage, welche Regeln unsinnig sind und unter Umständen revidiert oder gar abgeschafft werden könnten. Da spielt dann auch die Politik eine grosse Rolle. Ich gebe zum ersten Strang ein Beispiel aus einem neuen Unterrichtsformat («Law as a design factor»), das Patrick Bonzanigo und ich an der ETH Zürich entwickelt haben. Was müssten wir tun, wenn wir Waldsiedlungen ermöglichen wollen, also das Bauen im Wald? Dies vor dem Hintergrund des Waldgesetzes mit seinem sehr rigorosen Rodungsverbot. Wir verdanken diesem Forstrecht sehr viel. Aus der 
Perspektive des Waldgesetzes kommt man schnell an den Punkt, dass das Bauen einer Waldsiedlung nicht möglich ist. Wir können aber auch die Perspektive wechseln und Bauzonen betrachten, in de-nen wir einen ausgedehnten Baumbestand haben, der aber rechtlich nicht als Wald qualifiziert ist. In solchen Gebieten ist die Entwicklung einer Waldsiedlung durchaus denkbar. Die Auswahl an Zonen ist übrigens schon heute längst nicht so starr wie viele meinen. Städte und Gemeinden könnten – je nach Kanton – allein schon mit der Schaffung einer neuartigen Zone viel erreichen.

PB Das bestätigt, dass nicht das Zonensystem bzw. die Zone per se das Problem ist, sondern vor allem, was wir darin vorsehen. Da wären mit etwas Fantasie und rechtlichen Abklärungen noch andere Inhalte möglich, als heute oft der Fall ist. Das Thema der möglichen Inhalte von Zonen ist längst noch nicht ausgeschöpft.

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