Die saubere Lösung bröckelt
Die Schweizer Architektur der letzten zwanzig Jahre erscheint auf den ersten Blick makellos. Im Zuge der nicht enden wollenden Hochkonjunktur sind viele Bauten entstanden, die sich durch hohes entwerferisches Niveau, planerische Sorgfalt und Präzision in der Ausführung auszeichnen. Doch über die Kehrseite dieses Baubooms wird erst seit Kurzem gesprochen: Jede Sekunde fällt in der Schweiz über eine halbe Tonne Bauabfall durch Abriss an.1 Viele der neuen Gebäude sind Ersatzneubauten.
Was auch immer schon da war, ob temporäre Nutzungen, einzelne Gebäude oder ganze Quartiere mit Bewohnerschaft — die vorgefundenen Realitäten blieben meist unberücksichtigt, die bestehenden Potenziale ungenutzt. Stattdessen etablierte sich eine Praxis, in der Tabula rasa das bevorzugte Mittel zur Weiterentwicklung wurde: Der Totalabriss schafft die Ausgangslage, um ökonomisch berechenbar und gestalterisch kontrolliert bauen zu können. Dies war über Jahre hinweg der Weg des geringsten Widerstands für alle am Bau Beteiligten — von den Behörden über die Bauherrschaften bis hin zu den Architekt:innen. Ökologische und soziale Argumente werden dabei zwar ins Feld geführt, jedoch oft nur, um die Notwendigkeit einer Neuentwicklung zu rechtfertigen. Die Arbeit mit dem Bestand wurde
dabei zweitrangig und im Fachdiskurs zum Nebenschauplatz, während sich für viele Architekt:innen die Chance auf grosse Neubauprojekte bot. Die Eigenständigkeit des architektonischen Projektes wirkte intakt.
Doch die Praxis der Tabula rasa blendet die verworrenen Bedingungen unserer Gegenwart aus. Das Streben nach gestalterischer Perfektion und ökonomischer Berechenbarkeit führte zu einer Architektur, die in sich abgeschlossen ist – in den Worten des Soziologen Lucius Burckhardt eine «saubere Lösung».2 Die saubere Lösung versucht, die Komplexität einer Situation so weit zu reduzieren, dass sie mit einer einzigen Handlung beantwortet werden kann. Doch die Welt dreht sich weiter und schon morgen stellt die vollbrachte Handlung keine Lösung mehr dar, sondern ein neues Problem, das es mit der nächsten sauberen Lösung zu ersetzen gilt. Der Ersatzneubau wird somit zur Scheinlösung, die den Herausforderungen und Dynamiken der Gegenwart nicht gerecht werden kann.
Die Auswirkungen dieser Entwicklung prägten unsere Studienzeit an der ETH Zürich: Wir lebten in Häusern, denen ein baldiger Abbruch bevorstand, wir zogen vom einen befristeten Atelier zum nächsten und wir wurden in Zeichensälen unterrichtet, die mittlerweile verschwunden sind.3 Der Ersatzneubau wurde zum Phänomen, das wir in unserer Masterarbeit von 2020 besser verstehen lernten. Während der Dauer eines Jahres beschäftigten wir uns mit dem damals bevorstehenden Abriss einer grossen Siedlung der 1970er Jahre — die Siedlung Wydäckerring in Zürich, die mittlerweile ebenfalls einem Neubau Platz machte.4 Durch das Aufarbeiten des Netzwerks an Einflüssen, die zum Ersatzneubau führten, verstanden wir: Diese Praxis lässt sich zwar durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge erklären, doch der bestehenden verbauten Materie und der vor Ort gelebten Reali tät wird in dieser Gleichung kein Wert beigemessen.
Im Licht der gegenwärtigen Umbrüche ist es überfällig, weitsichtigere Ansätze zu erarbeiten, die dem vielfältigen Potenzial der gebauten Welt eine Zukunft ermöglichen. Unter dem Einfluss der Klimakrise sind bereits gebauter Raum und aufgewendete Energie wertvoller denn je, und in Zeiten zunehmender Wohnungsknappheit rücken die bestehenden Bauten in den Fokus der gesellschaftlichen Verhandlung.5 Anstehende Abrissvorhaben werden inzwischen nicht nur unter Architekt:innen kritisch diskutiert, sondern auch von der breiten Gesellschaft zunehmend hinterfragt. Die Akzeptanz von Ersatzneubauten beginnt zu schwinden — unter Einbezug baukultureller, ökologischer und sozialer Dimensionen wird das blinde Abreissen zur Praxis einer vergangenen Zeit.6 Die Transformation bestehender Bausubstanz wird damit im Kontext der baulichen Entwicklung immer wichtiger. Der Wandel hin zu einer Kultur des Weiterbauens betrifft alle — Bauherr:innen, Verfahrensauslober:innen und politische Entscheidungsträger:innen, aber insbesondere auch Architekt:innen. Denn es sind eben auch die gestalterische Maximen, die zur Praxis der Tabula rasa beigetragen haben. Heute merken wir: Der Wille ist da, sich auf den anspruchsvollen Weg des Weiterbauens zu machen.
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1 Der Verein Countdown 2030 hat diesen Wert 2022 für die Ausstellung Die Schweiz, ein Abriss im Schweizerischen Architekturmuseum S AM aus den Daten des Bundesamtes für Umwelt errechnet.
https://countdown2030.ch/home
2 Lucius Burckhardt, «Der kleinstmögliche Eingriff», 1982, in: Markus Ritter und Martin Schmitz, Der kleinstmögliche Eingriff, Berlin 2013, S.169.
3 Oliver Burch, Jakob Junghanss, Lukas Ryffel, Lebenshorizont erreicht, in: Hochparterre online, 2020
https://www.hochparterre.ch/campus/lebenshorizont-erreicht?tx_hochparterreblog_pi1%5Btitle%5D=14383&cHash=805fb38f56b64f9fd4a1fa04f57e4276 (abgerufen am 10.02.2024)
4 Oliver Burch, Jakob Junghanss, Lukas Ryffel, 8000.agency, Masterarbeit
Architektur, ETH Zürich 2020
https://8000.agency/wyd.html
5 Siehe z.B. Aktionsplan gegen die Wohnungsknappheit, Medienmitteilung
Bundesrat, 13. Februar 2024.
6 Siehe z.B. Davoser Kriterien für hohe Baukultur, Bundesamt für Kultur, Davos 2018: «Die Planung hat veränderte Rahmenbedingungen zu berücksichtigen und einzubeziehen, insbesondere im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung, die Biodiversitätskrise oder den Klimawandel».