Elias Baumgarten: Herr Lafranchi, der NFS Digitale Fabrikation ist in der Forschung zum Einsatz von Robotern im Bauprozess weltweit führend. Einige Schweizer Firmen sind international als Experten für die Umsetzung komplexer Freiformen hoch angesehen. Doch das Interesse der hiesigen Architekturszene an der Nutzung dieser Möglichkeiten ist nur schwach ausgeprägt. Und werden sie doch einmal ausgeschöpft, fallen die Reaktionen reserviert bis sehr ablehnend aus. Wie erklären Sie sich das?
Guy Lafranchi: Das hat mit dem Verharren in gewohnten Denkmustern zu tun, mit der Ausbildung an unseren Architekturschulen und der Angst vor Neuem. Immer noch wird vermittelt, der rechte Winkel sei das A und O. Viele behaupten auch weiter standhaft, je komplexer eine Form, desto teurer die Umsetzung. Dabei erleben wir gerade einen Umbruch: Aufgrund von Techniken wie Rapid Prototyping oder den wachsenden Möglichkeiten der robotischen Vorfertigung stimmt dieser Glaubenssatz nicht mehr.
Elias Baumgarten: Interessant, dass Sie bei Ihrer Antwort die Ausbildung in den Vordergrund rücken. Hierzulande gibt es noch nicht einmal ein Konzept, wie die Studierenden fit für die digitale Zukunft gemacht werden sollen. Zwar hat der Architekturrat der Schweiz ein Positionspapier vorgelegt, doch dieses ist wenig konkret; ich würde eher von einer Absichtserklärung sprechen. Steht nicht zu befürchten, dass unser Architekturnachwuchs dadurch im internationalen Vergleich erhebliche Nachteile hat?
In der Schweiz glauben viele, es genüge, in der Ausbildung einige Module anzubieten, die den Umgang mit dieser oder jener Software zum Thema haben. Das reicht nicht – genauso wie es nicht genug ist, einige Mitarbeiter:innen in einen BIM-Kurs zu schicken. Was verstärkt gefragt ist, ist die Fähigkeit konzeptionell zu denken. Künftig wird sich die Zusammenarbeit in der Bauwirtschaft weiter verändern. Wir werden weniger sequenziell, dafür immer öfter gleichzeitig und disziplinübergreifend arbeiten. Die Zeiten, da man nach sieben Wochen Analyse ein Projektentwurf anfing, sind vorüber. Und darauf müssen wir die Studierenden vorbereiten. Wir brauchen ein neues Mindset, eine neue Kollaborationskultur. Der Gedankenparameter muss sich ändern. Ich mache mir Sorgen, wenn ich sehe, wie hilflos die jungen Leute heute sind und wie festgefahren in Traditionen. Als Lehrer muss ich sie richtiggehend dazu ermuntern, etwas zu wagen. Nur so entsteht ein Leuchten in ihren Augen.
Caspar Schärer: Und das war früher anders?
Als ich studiert habe, gab es einen Moment, da war ich der Architektur müde und wollte alles hinschmeissen. Mich hat frustriert, was damals als gute Gestaltung angepriesen wurde. Dann aber fand ich in der Bibliothek ein Buch von Lebbeus Woods (1940–2012). Das war für mich ein Kickstarter, ein ganz wichtiger Moment. Über Lebbeus wunderbare Zeichnungen und Texte fand ich unter anderem einen Zugang zur Kybernetik. Generell habe ich aus ihnen die Erkenntnis gewonnen, dass das Wissen aus anderen Disziplinen der Schlüssel im Umgang mit Komplexität ist. Die langjährige Zusammenarbeit mit Lebbeus hat meine Denkweise stark geprägt.
Caspar Schärer: Waren seine fantastischen Welten und Formen auch der Startpunkt für Ihre Beschäftigung mit digitalen Werkzeugen?
Definitiv! Wir dachten über komplexe Formen nach, weil wir uns mit einer gesellschaftlichen und strukturellen Komplexität beschäftigten. Doch die Umsetzungsmöglichkeiten waren sehr beschränkt. Viele Projekte endeten damals im theoretischen Raum. Der Brückenschlag in die Praxis war sehr schwierig. Zu dieser Zeit war das Digitalisierungslevel der Architektur gleich null. Heute ist das meiste baubar, was wir damals gezeichnet haben. Das heisst allerdings nicht, dass digitale Tools nur helfen, komplexe Formen zu planen und umzusetzen. Auch ‹gewöhnliche› Vorhaben lassen sich schneller und ökonomischer umsetzen.
Elias Baumgarten: Ich möchte noch einmal auf die Ausbildung zurückkommen: Matthias Kohler, mit dem Sie zuletzt in Paris diskutiert haben, hat an der Tagung «Auf dem Weg zu einer digitalen Baukultur» in Dübendorf im November letzten Jahres gesagt, Architekt*innen müssten künftig auch programmieren können.
Matthias hat einen technischen Zugang und grosses Flair für diese Dinge. Ich hingegen komme von der konzeptionellen Seite, der Metaebene. Für mich sind Programme, Plug-ins und dergleichen Werkzeuge. Darum plädiere ich dafür, zuallererst eine gewisse Denkweise zu vermitteln. Die Studierenden sollten zunächst eine konzeptionelle DNA entwickeln. Digitale Werkzeuge sind sehr wichtig, dürfen aber nicht zu früh im Fokus der Ausbildung stehen. Denn ohne ein gutes Grundgerüst entstehen zum Beispiel beim parametrischen Entwerfen vollkommen willkürliche Projekte. Und programmieren, finde ich, müssen die Studierenden nicht können. Es reicht, wenn sie gut darüber Bescheid wissen und sich mit den Fachleuten unterhalten können.
Caspar Schärer: Lassen Sie uns in die Zukunft schauen: Worin sehen Sie die Potenziale der Digitalisierung der Bauindustrie für uns Architekt:innen?
Zunächst finde ich schade, dass nur auf Effizienzsteigerung fokussiert wird; immerzu sprechen alle fast nur über BIM. Sicher ist das ein wichtiges Thema, aber interessant sind zum Beispiel auch die neuen Möglichkeiten für die Kommunikation mit der Bauherrschaft durch VR-Anwendungen und so weiter. Wir nutzen Techniken aus dem Game-Design, um unseren Kunden unsere Gestaltungen zu zeigen und sie anschliessend mit ihnen zu diskutieren. Ich denke, dass die Corona-Krise hier den Fortschritt beschleunigen wird. Auch Datenmanagement, Sicherheit, Gesundheit und Hygiene, Personentracking und Mapping sowie integrative Sensortechnologie werden die Planung, den Betrieb und die Bespielung des privaten wie auch des öffentlichen Raumes stark beeinflussen. Sie werden ebenfalls Auswirkungen auf die Architektur haben.
Elias Baumgarten: Nun bringt die Digitalisierung unserer Gesellschaft nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch Gefahren mit sich. Ob es künftig zum Beispiel noch für alle im heutigen Umfang Arbeit geben wird, darf bezweifelt werden. Bist du besorgt ob der möglichen sozialen Konsequenzen?
Die Digitalisierung ist nicht die erste Umwälzung dieser Art in der Geschichte. Man denke nur an die Zeit der Industrialisierung – die Situationen gleichen sich und auch die Ängste. Es lässt sich nicht wegdiskutieren: Gewisse Jobs wird es bald nicht mehr geben. Dafür allerdings werden andere neu entstehen. Das ist brutal; einige werden das Nachsehen haben. Das birgt, wie Sie richtig sagen, Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viele haben überhaupt keine Möglichkeit und keine Chance – das ist traurig. Ich möchte hier aber vor allem an diejenigen appellieren, die diese Transformation erfolgreich bewältigen können: Ihr müsst permanent an euch arbeiten, offen für Neues sein und euch weiterbilden. Eure Arbeit kann mittelfristig auch jenen, die auf der Strecke zu bleiben drohen, neue Perspektiven eröffnen.
Guy Lafranchi hat an der ETH Zürich Architektur studiert. 1995 gründete er Atelier Guy Lafranchi in Bern und begann mit Lebbeus Woods zusammenzuarbeiten. 2006 wurde er Direktor des Research Institute for Experimental Architecture (RIEA.ch) in Bern. Im selben Jahr berief ihn die University of Applied Sciences Bern zum Professor. Seit 2010 leitet er das international tätige Architektur- und Designstudio Glad Ltd. Gemeinsam mit dem kreativen Firmen-Kollektiv Glad Cloud, das auf 150 Mitarbeiter:innen zurückgreifen kann, arbeitet es an Aufgaben von der Projektentwicklung im Grossen bis zum Produktdesign im Kleinen.