Im September 2020 erklärte Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, in ihrer Rede zur Lage der Union die Absicht, das New European Bauhaus (NEB) ins Leben zu rufen, als einen «Raum, in dem Architekten, Künstler, Studenten, Ingenieure und Designer gemeinsam und kreativ an diesem Ziel arbeiten.» Das Bauhaus ist Teil des European Green Deal, der EU-Strategie zum Erreichen von Netto-Null. Doch geht es hier nicht nur um Emissionen: «Dies ist nicht nur ein Umwelt- oder Wirtschaftsprojekt», erklärte von der Leyen, «es muss auch ein neues Kulturprojekt für Europa werden. Wir müssen dem Systemwandel ein Gesicht verleihen – um Nachhaltigkeit mit einer eigenen Ästhetik zu verbinden».
Eine Chance zur Mitgestaltung
Architekt:innen, Künstler:innen, Ingenieur:innen und viele andere sind hier angesprochen. Das ist völlig neu und eine grosse Chance! Bislang kam die Politik der Europäischen Institutionen ohne Architektur aus, ohne Referenzen zur gebauten Umwelt und ihrer Qualität. Was das Bauen betrifft, war sie geprägt von quantitativen Kriterien wie Energieverbrauch, Wärmedämmung und dergleichen, dominiert von den Einflüssen der Dämm- und Haustechnikindustrie. Nun besteht die Chance auf eine grundlegende Änderung dieser Haltung – hin zu einem kulturellen, ganzheitlichen Ansatz, hin zur Teilnahme aller Disziplinen, die die gebaute Umwelt gestalten oder zumindest beeinflussen.
Ich schreibe von einer Chance, und es bleibt zu hoffen, dass sie von möglichst vielen aufgenommen wird. Leider wird das Thema in vielen Ländern weiterhin bequem auf Nachhaltigkeit und Energie reduziert. Mehr Potenzial besteht definitiv auch bei der Transparenz: Das mag an der kleinen Gruppe liegen, die damit im Rahmen der EU-Kommission beschäftigt ist. Die finanzielle Dotierung des Projekts tendiert gegen Null und die Anzahl der dafür Zuständigen ebenfalls.
Dennoch gilt es zu anerkennen, was unter diesen widrigen Umständen bis anhin erreicht werden konnte. Der New European Bauhaus-Preis brachte eine einzigartige Sammlung von Initiativen und Beispielen quer durch Europa zusammen; sie alle nähren die Hoffnung, dass hier doch noch eine Bottom-up-Initiative entstehen kann. Nur , wenn die konstruktiven Kräfte gesammelt und ihren Stimmen Ausdruck verliehen wird, sehe ich eine Chance auf Erfolg. Dieser würde darin liegen, die grundlegende Haltung zu jeglicher Art von Planung zu verändern: demokratischer, ganzheitlicher, ressourcenschonender, sozialer, teilhabender (diese Liste ist unvollständig und die Reihenfolge ohne Gewichtung). Im Frühjahr 2022 wurde das NEB Lab ins Leben gerufen, ein «think & do tank for concrete and tangible New European Bauhaus projects»; zuvor wurden nationale Contact points auf Regierungsebene eingerichtet. Ich hoffe nur, dass durch diesen Schritt das Potenzial der Initiative nicht nur durch nationale Ministerien bürokratisch eingehegt wird.
Unmittelbar nach der Rede der Kommissionspräsidentin lud ich als Präsident des Architects’ Council of Europe ACE die Schwesterorganisationen zur Zusammenarbeit ein. Das in der Folge gegründete NEB collective umfasst mittlerweile 17 Organisationen aus Architektur, Landschaftsarchitektur, Ingenieurwesen, Architekturschulen, Kunstschulen und Forschung.
Architektur statt Erbsenzählereien
Beim New European Bauhaus muss es um mehr gehen als um eine Haltung, es geht vielmehr um ein konkretes Game changing in Europa. Wir müssen uns entfernen von der rein quantitativen Betrachtung des Klimawandels, der in der Erbsenzählerei hinsichtlich Dämmstoff und Gebäudeausrüstung endet, – und uns hin zu einer holistischen Herangehensweise als Grundvoraussetzung für eine hohe Qualität in der Architektur bewegen. Die Initiative darf auch nicht ohne Auswirkungen auf Regularien wie etwa die Vergabedirektive bleiben. Auch da muss eine Bewegung stattfinden: vom Prinzip des tiefsten Preises hin zum Prinzip des qualitativ besten Angebots beziehungsweise der besten Lösung. Nur wenn eine solche Konkretheit erreicht wird, findet das Neue Europäische Bauhaus tatsächlich Niederschlag im Alltag und wirkt sich aus auf die gebaute Umwelt.
Baukultur breit verstanden
Im Rückblick erweist sich das Europäische Jahr des Kulturerbes 2018 als Schlüsselmoment für die Baukultur. Erstmals rückte die Europäische Kommission die Kultur in das Zentrum ihrer politischen Aufmerksamkeit. An der Auftaktveranstaltung zum Kulturerbejahr im Dezember 2017 in Mailand kam allerdings der Begriff «Architektur» noch nicht vor, – ein deutlicher Hinweis darauf, dass es hier noch Handlungsbedarf gab.
Kurz danach, im Januar 2018, lud der damalige Schweizer Bundespräsident Alain Berset die Kulturministerinnen und -minister Europas und weiterer Länder sowie Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen im Rahmen des World Economic Forums WEF zur Unterzeichnung der inzwischen legendären Davos Declaration ein. Mit diesem Dokument wurde der Diskurs über Baukultur auf die europäische Kulturagenda gesetzt – ein Diskurs, der in den mitteleuropäischen deutschsprachigen Ländern seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre gereift ist und der das Denken und Handeln in Sachen höchster Architekturqualität um wesentliche Dimensionen erweiterte. Die Mitglieder des ACE diskutierten an vier Konferenzen seit 2018 Themen wie «Adaptive re-use and built heritage» (2018), «Achieving quality in the built environment» (2019) oder «Climate change and built heritage» (2021).
Eine wichtige Wegmarke waren die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zum Arbeitsplan für Kultur 2019-2022, vorbereitet 2018 durch die Ratspräsidentschaft Österreichs, in dem Architektur erstmals auf strukturell auf europäischer Ebene zu einem Thema wurde. Im Rahmen dieses Arbeitsplans wurde eine Arbeitsgruppe «Hochwertige Architektur und gebaute Umwelt für alle» eingerichtet. Ein Satz im Gründungsdokument verdient besondere Aufmerksamkeit: «Der Schwerpunkt wird auf Architektur als Disziplin, die ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und technischen Aspekten im Hinblick auf das Gemeingut bietet, liegen.» Die Arbeitsgruppe tagte mehrmals bis zum Herbst 2021 und legte an einer Konferenz in Graz und Maribor einen Bericht vor, der umfassend auf die Erfordernisse der Architekturlandschaft eingeht und dabei Anregungen und konkrete Empfehlungen etwa zum Europäischen Vergaberegime enthält. Der Bericht übernimmt unter anderem das 2020 unter der Leitung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur BAK entwickelte Davos Quality System. Von besonderer Bedeutung ist die Empfehlung des Berichts an das Generalsekretariat des Europäischen Rats, dass «culture, high-quality architecture and built environment as key elements of the New European Bauhaus initiative» verstanden werden sollten. So kam die Baukultur in das New European Bauhaus.
Architektur für den Wandel
Dass sich etwas verändert, lässt sich sehr schön am Mies van der Rohe Award (European Prize for Contemporary Architecture) ablesen: Seit seinem Bestehen würdigte der Preis in der Regel «Sonntags»-Bauten, also Opernhäuser, Theater und Museen. Bei den letzten beiden Ausgaben 2019 und 2022 standen Bauten des Alltags im Fokus, namentlich Wohnbauten. 2019 gewannen Lacaton & Vassal den Preis mit dem Grand Parc in Bordeaux, der die Chancen des Weiterbauens am Bestand auf herausragende Art zeigt. 2022 geht der Preis an Grafton Architects und das Town House der Kingston University in London – ein Gebäude mit kulturellen und öffentlichen Nutzungen. Den Preis für Emerging Architecture holt sich die partizipative Wohnbau-Initiative La Borda in Barcelona mit dem Holz-Gebäude von Lacol.
Die Entwicklung des politischen Denkens in der EU hinsichtlich der Qualität der gebauten Umwelt stimmt optimistisch; das Konzept des Neuen Europäischen Bauhauses kann ein tragendes Element werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich alle relevanten Kräfte daran kooperativ mitarbeiten – von den manchmal seltsamen Eigeninteressen von Berufsständen hin zu einer gemeinsamen Haltung für ebenso hochqualitative wie klimagerechte Architektur und Baukultur.
Im ACE Architects Council of Europe ist auch die Schweiz vertreten (ebenso wie Norwegen und UK). Aktuelle Delegierte aus der Schweiz sind Regina Gonthier, Doris Wälchli, Lorenz Bräker und Jürg Spreyermann. Der ACE vertritt die Anliegen und Sichtweisen von Architektur in den Gremien der EU und koordiniert die Arbeit der nationalen Verbände.
Georg Pendl (1954) war von 2017 bis 2021 Präsident des Architects Council of Europe. Er führt in Innsbruck das Architekturbüro Pendl architects, war 2006–14 Präsident der Kammer der Ziviltechniker:innen Österreichs und ab 2014 Bundesvorsitzender der Sektion Architekt:innen.