Louis I. Kahn soll seinen Studierenden jeweils nahegelegt haben, beim Entwerfen das Material um Rat zu fragen. Diese Idee bezieht sich auf das meist inspirierende, fordernde und zuweilen auch schwierige Verhältnis der Entwerfenden zum Material. Kahn bezieht sich auf das Machen von Architektur, in diesem Fall auf das Fügen von Ziegelsteinen, das sich über mehrere tausend Jahre hinweg zu einer Technik und einer Kultur verfeinert hat. Es ist eine vielschichtige Entwicklungsgeschichte, auf die wir Architektinnen und Architekten jederzeit zurückgreifen können. Sie stellt einen sehr umfangreichen Fundus für Technik und Form dar.
«Eine der schönsten Denkfiguren der Antike», so Michael Mönninger, «kreist um den Begriff Entelechie». Das ist eine von Aristoteles entwickelte Vorstellung, dass jedem Stoff eine Kraft innewohnt, die ihn zu einer idealen und optimalen Formbildung im Sinne seiner Selbstverwirklichung treibt. Man könnte es auch zeitgemäss als die Selbstorganisation der Materie bezeichnen oder als ihre morphogenetische Dimension, die vom Handwerker und Künstler gleichermassen fordert, «ins Material hineinzuhören.» Hier setzt auch die Diskussion in der heutigen Materialwissenschaft ein, die das selbsttransformative Potenzial von Material untersucht.
Im Gegensatz zu Ziegel oder Stein, die hauptsächlich auf Druck belastet werden können, ist Holz, das Material, um das es in der vorliegenden Forschungsarbeit geht, sowohl auf Druck als auch auf Zug belastbar. Seine Entwicklungsgeschichte als Baumaterial ist ebenso alt wie jene des Ziegels und des Steins, sei es in der Blockbauweise, wo liegende Hölzer vergleichbar einer Mauer aufeinandergeschichtet und an den Ecken der Wände miteinander verkämmt oder verblattet werden, oder als stabförmige Elemente, die in einer bewegten Entwicklungsgeschichte zu immer raffinierteren Konstruktionen zusammengefügt wurden. Mit der fortschreitenden Industrialisierung und den damit verbundenen Veränderungen im Bauwesen wurden schliesslich zunehmend Holzwerkstoffe verwendet, eine fortlaufende Entwicklung, die bis heute anhält.
Formsperrholz, um dessen Potenzial es in dieser Arbeit geht, ist ein leistungsfähiger Werkstoff aus Holz, dessen besondere Materialeigenschaften sich aus einer gezielten Anordnung der Holzfasern ergeben. Hergestellt in einem industriellen Verfahren, besteht der Werkstoff aus mehreren Schichten zusammengepresster Furniere, bei denen in der Regel die Faserrichtung der aufeinanderfolgenden Furnierschichten in unterschiedliche Richtungen verläuft. Dabei entsteht das Absperren der Furniere, so dass das in eine bestimmte Form gepresste Holz formbeständig und stabil bleibt. In der nun vorliegenden Studie wird aufgezeigt, wie diese Technik, deren ausgeprägte plastische Erscheinung wir vor allem von Möbeln und insbesondere von Stühlen kennen, nun auch für Tragstrukturen genutzt werden kann.
Schon ein erster Blick auf die abgebildeten Modelle und Darstellungen der Arbeit macht das räumlich-architektonische Potenzial des Materials sichtbar. In einer Serie architektonischer Explorationen werden einige grundsätzliche Ideen veranschaulicht: modulares Prinzip, aufgelöstes System, komponierte Grossform, additive Ordnung, kontinuierliche Membran. Das Resultat ist eine Sammlung von Möglichkeiten, wie Formsperrholz als Tragstruktur in der Architektur eingesetzt werden kann, ein nützlicher Fundus an Systemen und Formen, die auf den spezifischen Eigenschaften von Formsperrholz basieren. Die Forschungsarbeit soll aber letztlich vor allem dazu anregen, selbst ins Material Formsperrholz «hineinzuhören» und eigene Spielregeln zu entwickeln, um neue Strukturen und Räume zu schaffen, ganz im Sinne von Louis I. Kahns Aufforderung, das Material zu Rate zu ziehen.