Caspar Schärer: Frau Sidler, wie sind Sie in Ihrer Funktion als Bauvorsteherin mit partizipativen Verfahren in Kontakt gekommen?
Mary Sidler: Das erste Mal gingen wir diesen Weg 2013 in einem Einfamilienhausquartier mit privatrechtlichen Sonderbauvorschriften. In den vierzig Jahren seit seiner Entstehung hat sich gesetzlich viel geändert – sowohl kommunal wie auch kantonal. Das neue Schweizer Raumplanungsgesetz war damals noch nicht in Kraft, aber bereits in Diskussion. Ein Grundeigentümer wollte sein Einfamilienhaus in ein Mehrgenerationenhaus transformieren und kam auf mich zu mit der Frage, wie er das anstellen solle. Ich plädierte von Anfang an dafür, das ganze Quartier einzubeziehen und eine Gesamtbetrachtung zu machen. Und da alle Grundeigentümer damals die privatrechtliche Vereinbarung unterzeichnet hatten, war er auf seiner Parzelle nicht alleine handlungsfähig.
Roland Züger: Wie lief das Verfahren ab?
Es begann klassisch mit einer Informationsveranstaltung, an der ich die Ausgangslage erklärte. Danach sprach ich mit jedem einzelnen Grundeigentümer, um zu erfahren, was ihm wichtig ist, was er am Quartier schätzt, wo er Verbesserungsmöglichkeiten sieht und was die Absichten für die eigene Liegenschaft sind. Parallel dazu wurde ein Architekturbüro beauftragt, das eine fachliche Analyse des Quartiers durchführte und Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigte. An mehreren Workshops diskutierten wir diese Vorschläge. Daraufhin haben die Planer aus drei Varianten eine finale weiterentwickelt, bis wir die Grundlagen für einen Bebauungsplan hatten. Dieser Plan wurde 2017 an der Gemeindeversammlung fast einstimmig angenommen.
Roland Züger: Wie waren die Reaktionen der Grundeigentümer?
Am Anfang war ein grosser Teil skeptisch und hatte Angst vor Veränderung. Zum Ende hin waren dann alle bis auf einen dafür und haben die neuen Chancen für ihr Grundstück und das Quartier gesehen. Alle waren sehr dankbar, dass sie überhaupt mitreden durften.
Caspar Schärer: Welche Rolle hatten Sie in dem Prozess?
Ich führte alle Gespräche und moderierte die Workshops. Dies tat ich aus eigenem Antrieb im Rahmen meines Stadtratsamtes, weil ich der Überzeugung bin, dass die Gestaltung unseres Lebensraumes einen wesentlichen Einfluss hat auf unser Wohlbefinden und unser soziokulturelles Umfeld. Dabei genügt es nicht, jede Parzelle einzeln zu betrachten, man muss Quartiere und Areale als Ganzes in den Blick fassen. Für die positive Wahrnehmung eines Ortes sind die Form und Gestaltung der Freiräume und der Gebäude essenziell. Mein Herz schlägt für eine gute Baukultur und ich setze mich dafür ein.
Caspar Schärer: Wie gingen Sie vor, um die Gegner zu überzeugen?
Mein oberstes Prinzip ist es, den Leuten Chancen und Potenziale aufzuzeigen. Ich möchte sie für die Vorzüge unseres Lebensraumes sensibilisieren und mit ihnen schauen, wie wir diesen verbessern können. Ganz wichtig ist, dass die Betroffenen das Ziel des Prozesses, die Rahmenbedingungen und den Spielraum kennen, in welchem sie mitdiskutieren können. Wichtig ist auch genau hinzuhören, ihre Anliegen ernst zu nehmen und in den Gesamtkontext einzuordnen ohne falsche Erwartungen zu schüren. Das braucht Zeit und Geduld.
Roland Züger: Wie ging es nach dieser Erfahrung weiter? Haben Sie andere partizipative Verfahren durchgeführt?
Ja, einige. Ein sehr interessantes Verfahren verfolgten wir im Weiler Kirchbühl. Es handelt sich dabei um einen weitgehend intakten Kirchweiler ausserhalb der Bauzone von Sempach, der auch im ISOS eingetragen ist. Schon bis dahin musste jeder, der einen Ersatzneubau realisieren wollte, einen Wettbewerb durchführen. Aber es wurde nie eine Gesamtbetrachtung des Ortes gemacht, was zum Teil unpassende Lösungen zur Folge hatte. 2015 begannen wir eine enge Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern HSLU und dem Kanton (Denkmalpflege und Dienststelle Raumentwicklung). Wir beschäftigten uns mit den Qualitäten und den typischen räumlichen, landschaftlichen und architektonischen Elementen des Ortes. Auch hier trafen wir uns regelmässig mit den Anwohnenden und besprachen mit ihnen, was für sie wichtig ist und wie sie ihren Lebensraum wahrnehmen. Auf diese Weise entwickelten wir einen Leitfaden für den Weiler.
Der Prozess gab den Bewohnerinnen und Bewohnern ein neues Verständnis: Es wurde ihnen bewusst, dass es darauf ankommt, was man baut und welche Möglichkeiten trotz restriktiveren Vorgaben bestehen. Wenn man untereinander einig ist und das Ziel versteht, ist vieles möglich. Heute wird der Leitfaden gelebt – weil sich die Menschen damit identifizieren und sie daran beteiligt waren.
Roland Züger: Was haben Sie aus diesen Prozessen gelernt?
Es gibt nicht das eine Verfahren. Man muss immer auf die besondere Ausgangslage reagieren, auf die Zusammensetzung der Grundeigentümer. Und man sollte sich darüber im Klaren sein, was überhaupt das Ziel des Verfahrens ist und dieses jederzeit im Auge behalten. Man muss sich auch bewusst sein, dass die Prozesse nicht linear verlaufen. Hohe Flexibilität und Reflektion des bereits Erreichten sind erforderlich, da auf dem Weg neue Erkenntnisse auftauchen, die allenfalls einen Zwischenschritt erfordern. Nachhaken und wirklich zuhören ist besonders wichtig, ebenso Vertrauen schaffen, transparent kommunizieren. Der Zeitpunkt, wann man die Leute einbezieht, sollte sorgfältig gewählt sein. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht überfordert werden.
Caspar Schärer: Wo sind typische Stolpersteine zu erwarten?
Man sollte vermeiden, zu hohe Erwartungen zu wecken. Man muss sich im Klaren sein, was man abholen will. Der Fächer der Mitsprache ist nie komplett offen, sondern nur in einem bestimmten Bereich. Dies sollte von Anfang an klar kommuniziert werden. Ausserdem besteht natürlich immer die Gefahr, dass Teilnehmende solche Verfahren dazu nutzen, nur ihre eigenen Interessen in den Vordergrund zu rücken. Aber das gehört dazu. Wichtig ist es stets, Verständnis für alle Bedürfnisse zu signalisieren – auch für diejenigen, die nichts verändern wollen – und adressatengerecht zu kommunizieren.
Roland Züger: Welchen Rat möchten Sie einer Kollegin, einem Kollegen in einer anderen Gemeinde weitergeben?
Partizipative Prozesse brauchen viel Geduld und Ausdauer. Und, ganz wichtig: Die Politik muss vorangehen und Qualität für Baukultur in Planung und Bau einfordern.
Mary Sidler ist dipl. Architektin FH und hat ein CAS Rhetorik und Moderation am Medienausbildungszentrum MAZ absolviert. Seit 2008 ist sie Stadträtin Ressort Bau in der Gemeinde Sempach. Mit ihrer Firma OrtsWerte GmbH unterstützt sie auch andere Gemeinden in partizipativen Verfahren zur qualitätsvollen Innenentwicklung und setzt sich in diversen Gremien für die Baukultur ein.