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offen erschlossen – Ansätze zum Weiterbauen – werk, edition

Kaleidoskop

Das Kapitel nähert sich der offenen Erschliessung auf assoziative Weise. Es entsteht ein Kaleidoskop der Zwischenwelten: Projektbeispiele stehen neben Haltungstexten, Zitaten und Fragmenten aus Interviews, die wir im Rahmen dieser Arbeit geführt haben. Sie werden von visuellem Material in freier Anordnung begleitet und führen durch einzelne Aspekte der Offenheit.

Oliver Burch, Jakob Junghanss, Lukas Ryffel

 

Die Kontrolle der Umwelt

 

Blue Marble, Apollo 17, 1972
Bild: NASA / Harrison Schmitt, Ron Evans

Im Jahre 1969 stellt der englische Architekturkritiker Reyner Banham in seinem Text «The Architecture of the Well-tempered Environment» fest, dass der Mensch in praktisch allen heute bewohnten Gebieten – mit Ausnahme der trockensten und kältesten – auch ohne viele Hilfsmittel überleben kann. Aber eben nur überleben. Um aufzublühen, braucht es mehr. Die Umwelt muss dafür kontrolliert werden: Trockenheit bei Gewitter, Wärme im Winter, Kühlung in der Hitze. Zur Herstellung einer kontrollierten Umwelt stehen zwei verschiedene Massnahmen zur Verfügung: einerseits strukturelle – das Errichten von massiven, permanenten Gebäuden – und andererseit energiebasierte – in seiner einfachsten Form ein Feuer.

M210, Hans-Walter Müller, La-Ferté-Alais, 1973, Foto von 2019

Eine für den Menschen angenehme Umgebung könnte also nur durch eine hauchdünne Membran geschaffen werden. So wie es uns Hans-Walter Müller vorzeigt, der seit 40 Jahren in «einer von Luft getragenen Architektur» ausserhalb von Paris lebt.

 

 

Die Hülle wird aufgebrochen

 

La riappropriazione della città, Ugo La Pietra, Filmstill, 1977
Bild: Archivio Ugo La Pietra, Milano

«Wir sind nie draussen, es sei denn, wir hätten eine andere, fragilere, technologisch raffiniertere Hülle neu geschaffen. Wir bewegen uns von Hüllen zu Hüllen, von Falten zu Falten, nie von einer Privatsphäre zum Grossen Aussen». — Bruno Latour, Ein vorsichtiger Prometheus?, 2009

Thermal Conductivity, Philippe Rahm Architectes, 2007
Bild: Philippe Rahm Architectes / Philippe Rahm, Andrej Bernik, Nicolas Souchko

Was für eine Architektur kann entstehen, wenn wir uns von der klaren Trennung zwischen «Innen» und «Aussen» lösen? Was muss überhaupt noch thermisch kontrolliert sein und in welchem Ausmass?

Das wachsende Haus, Martin Wagner, 1931
Bild: Akademie der Künste, Martin-Wagner-Sammlung

Befreien wir uns von der Vorstellung des «Innen» und ziehen die einzelnen Funktionsschichten der Fassade auseinander, entstehen direkt erlebbare Räume. Bereits 1931 formuliert eine Berliner Arbeitsgruppe ähnliche Ansätze unter dem Titel «Das wachsende Haus»: Im Rahmen eines Wettbewerbs soll ein Gebäude entwickelt werden, das in engem Austausch mit seiner Umgebung steht und dabei die Grenzen des Hauses auflöst. Martin Wagners Entwurf unterteilt dabei das Haus in einzelne Nutzungszonen, die sich nach klimatischen und funktionalen Ansprüchen abstufen.

Logements Jardins Neppert, Lacaton + Vassal Architectes, Mulhouse, 2015
Bild: Lacaton + Vassal Architectes, Philippe Ruault

Lacaton + Vassal prägen den Begriff des «Extra Space». Beispielhaft steht hierfür das Wohnbauprojekt Jardins Neppert. Die vom offenen Treppenhaus abgehenden Haustüren führen nicht direkt in den Innenraum, sondern in einen Wintergarten. Dieser ist nicht nur thermischer Puffer, sondern auch Übergang zwischen der halböffentlichen und der privaten Sphäre. Die Gebäudehülle wird in unterschiedliche Raumschichten aufgelöst, die jeweils ihr eigenes Nutzungspotenzial aufweisen.

 

 

Wer kümmert sich um den Raum dazwischen?

 

Hofstatt Kappel, Fosco Fosco-Oppenheim Vogt, Kappel, 1982
Bild: Fosco Fosco-Oppenheim Vogt Architekten

Unter dem grossen, ausladenden Dach der Hofstatt Kappel bietet ein erhöhter, nachbarschaftlicher Zwischenraum einen witterungsgeschützten Ort für die Gemeinschaft. Die Durchlässigkeit der Struktur erlaubt vielfältige Blickbeziehungen und Nutzungsmöglichkeiten – ein Ort des Übergangs zwischen dem landwirtschaftlich geprägten Umland und den Bewohner:innen der sieben Reihenhäuser.

Schwellenräume zeichnen sich durch eine gewisse Uneindeutigkeit in der Zuschreibung aus. Oft geht dies mit einem Aushandlungsprozess um die Verantwortlichkeit und Nutzung einher. Je mehr die Bewohner:innen an diesem Prozess beteiligt sind, desto mehr Engagement kann in der Pflege der Räume erwartet werden.

Der gemeinschaftliche Raum wird zum Ausdruck des geteilten Verständnisses vom Zusammenleben

Wohnanlage Neubiberger Strasse, Doris und Ralph Thut, München, 1978
Bild: Doris und Ralph Thut

Offene Erschliessungsräume geben Einblick in das Zusammenleben in einem Gebäude. Ein Selbstbauexperiment von Doris und Ralph Thut in München zeigt dies exemplarisch: Das Gebäude basiert auf einer primären Tragstruktur aus Holz. Die Decken und nicht tragenden Wände folgen der Logik der infills, die durch die Bewohner:innen ausgebaut wurden. Die Chance individueller Entscheidungsmöglichkeiten zieht sich durch das ganze Haus bis in die Räume der Gemeinschaft. Den einzelnen Wohneinheiten ist südseitig ein grosses Glashaus vorgelagert – eine Mischung aus offener Erschliessung, Wintergarten und Waschküche. Davor befindet sich ein Terrassendeck aus Holz, das über die ganze Länge verläuft. Durch die vielfältigen Schwellenräume führen verschiedene Wege in das Gebäude: entlang der Hauptseite, über die Terrasse oder durch das Glashaus.

Wohnanlage Neubiberger Strasse, Doris und Ralph Thut, München, 1978

 

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